Sozialstaat- und Umweltanliegen dürften es im neuen Parlament schwerer haben. Eine konservative Wende zeichnet sich nicht ab.
Das Parlament mag zwar nach rechts gerückt sein. Dass seine
Entscheide in Zukunft konservativer ausfallen, ist dagegen nicht zu
erwarten. Foto: Keystone
Seit Ende November ist die neue Bundesversammlung
komplett. Damit lassen sich auch die politischen Profile der beiden Räte
verlässlich vergleichen: Bei welchen Themen besteht Einigkeit, wo liegt
Konfliktpotenzial, und wie ist die Entwicklung seit den Wahlen von 2011
einzuschätzen? Bisherige Einordnungen der Wahlergebnisse vom Oktober
haben den Ständerat zumeist ausser Acht gelassen.
Einerseits sind mehr
als ein Drittel der Sitze zunächst unbesetzt geblieben. Anderseits
geniessen die Ständeratsmitglieder aufgrund der Majorzwahl oft eine
erhöhte Unabhängigkeit von ihrer Parteiführung. So fällt denn auch das
Wahlergebnis bei der kleinen Kammer weniger eindeutig aus als beim
Nationalrat: Zwar hat ebenfalls eine Stärkung rechtsbürgerlicher
Parteien stattgefunden, anders als im Nationalrat sind diese jedoch weit
von einer Mehrheit entfernt.
Eine rein
parteiarithmetische Sichtweise ist aber ohnehin unsinnig. Etliche
CVP-Ständeräte, so zum Beispiel die beiden Walliser, sind deutlich
rechtsbürgerlich positioniert. Demgegenüber finden sich in der FDP zwei
Linksfreisinnige aus der Romandie. Bekannt ist auch, dass die
SP-Politiker Claude Janiak, Daniel Jositsch und Pascale Bruderer nicht
immer der Parteilinie folgen. Gleiches gilt für einige SVP-Ständeräte.
Der Schaffhauser Thomas Minder schliesslich, obwohl Teil der
SVP-Fraktion, agiert autonom. Mit dem parteipolitischen Zählrahmen ist
das Profil des Ständerats also nicht zu erfassen.
Konflikte zwischen den Räten
Ein
realitätsnahes Bild ergeben daher einzig die konkreten politischen
Positionsbezüge. Um herauszufinden, ob der neue Ständerat den Positionen
des Nationalrats folgt oder vermehrt sein eigenes Süppchen kocht,
bieten die Antworten der gewählten Parlamentarier auf die 75 Fragen der
Online-Wahlhilfe Smartvote eine gute Datenbasis.
Die Auswertung
belegt: Die voraussichtlichen Mehrheitspositionen im National- und im
Ständerat unterscheiden sich nur bei acht Smartvote-Fragen. Allein diese
Zahl verdeutlicht, dass ernsthafte Blockaden zwischen den Kammern kaum
zum Alltag der kommenden Legislatur gehören werden. Relevanter als die
blosse Anzahl ist die politische Bedeutung der Themen, bei denen
Differenzen zutage treten. So wird etwa bei folgenden wichtigen Fragen
wahrscheinlich Uneinigkeit bestehen:
Erhöhung des Rentenalters:
Die Befürworter einer Erhöhung haben im Nationalrat eine eher knappe
Mehrheit, während im Ständerat ein Nein resultiert. Die Chancen, dass
der Ständerat der Rentenaltererhöhung im Rahmen einer Paketlösung bei
der AHV-Reform zustimmt, sind indes intakt. Die kleine Kammer befindet
sich somit in einer guten Position, um bei der Ausgestaltung dieser
Paketlösung ihren Stempel aufzudrücken.
Steuersenkungen:
Eine ebenfalls relativ knappe Mehrheit unter den Nationalratsmitgliedern
befürwortet Steuersenkungen auf Bundesebene. Im Ständerat sind die
Vorzeichen umgekehrt. Spürbare Steuerentlastungen dürften es auch wegen
der düsteren finanziellen Aussichten des Bundes für die nächsten Jahre
eher schwer haben.
Liberalisierung der Geschäftsöffnungszeiten:
Eine Deregulierung der Ladenöffnungszeiten ist im Nationalrat
mehrheitsfähig, im Ständerat hingegen ist diese kaum durchzubringen. Der
Nationalrat dürfte daher die hängige Vorlage zur teilweisen
Liberalisierung annehmen, der Ständerat zum wiederholten Male ablehnen.
Verschärfung des Jugendstrafrechts:
Eine knappe Mehrheit der grossen Kammer würde längere Haftstrafen in
geschlossenen Anstalten für jugendliche Straftäter befürworten. Eine
ebenso knappe Mehrheit im Ständerat lehnt dies ab. Wie sich das
Parlament im konkreten Fall entscheiden würde, ist daher völlig offen.
Akzentverschiebung nach rechts
Aufschlussreich
ist zudem der Vergleich mit den vorletzten Wahlen von 2011. Aufgrund
der Auswertung der damaligen Smartvote-Antworten waren 2011 beide Räte
noch klar gegen eine Rentenaltererhöhung. Auch Forderungen nach
Steuersenkungen auf Bundesebene oder für eine Verschärfung des
Jugendstrafrechts verfügten in keiner der beiden Kammern über eine
Mehrheit. Sozialstaats- und Umweltschutzanliegen werden es im neuen
Parlament schwerer haben als bisher; dies zeigt sich unter anderem
daran, dass sich die im Ständerat 2011 noch mögliche Mehrheit zugunsten
einer Einführung von Familien-Ergänzungsleistungen inzwischen
verflüchtigt hat.
Die politische Verschiebung im Nationalrat zeigt
sich auch am Beispiel der Schutzbestimmungen für Grossraubtiere. Nach
den vorletzten Wahlen war die grosse Kammer gemäss Smartvote-Antworten
noch mehrheitlich gegen eine Aufweichung. Nach den Wahlen 2015 spricht
sich in beiden Räten eine Mehrheit dafür aus.
Bilaterale haben weiter Vorrang
Insgesamt
betrachtet, dürfte es speziell im Nationalrat erneut eine Legislatur
der knappen Mehrheiten werden – diesmal mit leichten Vorteilen für
Mitte-rechts. Das Parlament mag zwar nach rechts gerückt sein. Dass
seine Entscheide in Zukunft konservativer ausfallen, ist dagegen nicht
zu erwarten. Dies zeigt sich bei gesellschaftspolitischen Themen, aber
auch bei solchen mit aussen- und migrationspolitischem Bezug. So haben
Erleichterungen bei der Einbürgerung von Ausländern der dritten
Generation in beiden Räten gute Chancen. Auch die vermehrte Aufnahme von
Kontingentsflüchtlingen findet im Ständerat eine relativ klare
Mehrheit, die grosse Kammer lehnt sie nur noch knapp ab. Beim
Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare und der aktiven
Sterbehilfe ist im Vergleich zu 2011 zumindest eine deutliche Tendenz zu
gesellschaftsliberaleren Haltungen erkennbar.
Eine klare Kante
zeigt das Parlament in den aussenpolitischen Schicksalsfragen der
nächsten Jahre: Der Vorrang der Europäischen Menschenrechtskonvention,
das Schengen-Abkommen und die Priorität der Bilateralen gegenüber der
strikten Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative sind im National-
und Ständerat nach wie vor unbestritten.
* Daniel Schwarz
ist Co-Projektleiter der Wahlplattform Smartvote. Die Studie basiert
auf den politischen Profilen von 188 Nationalrats- und 41
Ständeratsmitgliedern. Fehlende Profile wurden durch den Mittelwert der
jeweiligen Fraktion ersetzt.
Quelle: Tages-Anzeiger 23.11.16
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